Montag, 31. Oktober 2011

Schienenverkehr

Seit mindestens 30 Jahren dringt ein Jammern und Wehklagen aus der Sphäre der Politik: Der Individualverkehr, vor allem der motorisierte, nehme immer mehr zu und es gelinge nicht, ihn oder die Mobilität, die uns unschätzbare Vorteile bringt und allen außer mir so am Herzen liegt, „auf die Schiene“ zu verlegen.
In der Tat, das ist verwunderlich, weil es vermutlich nicht einen einzigen Politiker gibt, der da nicht mit aller Kraft hinterher wäre, was jeder auch immer wieder in aller Deutlichkeit kundtut. Woher es kommt, daß all die Mühe nichts fruchtet, hat man bisher nicht vollständig aufzuklären können. Vielleicht liegt’s daran, daß die Politiker halt auch der Automobilindustrie gern einen Gefallen tun und Deutschland ohne Opel nicht mehr Deutschland wäre. Oder es liegt am Mehdorn, der während seines äonenlangen Wirkens gewiß der unbeliebteste Deutsche neben dem berüchtigten Bayern-Manager Uli Hoeneß war.
Eine unausweichliche Folge dieser Mißerfolge war, daß sich die Schiene ein Ventil suchte. Was das Wort jenseits der Welt des Eisenbahnwesens und der Unfallmedizin bedeutet, weiß keiner, aber gerade deshalb kann man  es praktisch für alles verwenden, d. h. es bedeutet ziemlich haarscharf das, wozu man früher „etwas“ oder, als dessen Steigerung, „irgendwas“ gesagt hat. Besonders gern wird es in Debatten eingesetzt.
Über 100.000 Treffer ergab bei Google „ganz andere Schiene“ (Juli 2010). Vorwiegend gebrauchen Diskutierer in Internetforen diese Wendung. Der Schulbuchverlag Cornelsen „ist eine ganz andere Schiene“ als irgendwas anderes, und Harry Potter ist „doch ne ganz andere Schiene als Twilight“; „ein wenig Gemüse oder was auch immer vorzukosten (man muss ja auch die Temperatur prüfen...) ist ja wohl auch eine ganz andere Schiene als einen Nucki abzulutschen“, „Relaktieren ist ja auch nochmal eine ganz andere Schiene als allgemein zu wenig Milch“, irgendwas „fällt“ „in ne ganz andere Schiene“, und in Großbritannien „müßtest du“ „eine ganz andere Schiene einschlagen“; „beim Sequel“, was immer das sein mag, macht man genau das bereits jetzt, und „klar ist ne Mail ne ganz andere Schiene als ein Anruf“, und wiederum eine „andere Schiene fährt das Technologie orientierte [sic!] Forschungsunternehmen bubbles & beyond“, und auch „VW ist da eine ganz andere Schiene gefahren“.
Ist's noch auszuhalten? Komm, süßer Tod, komm selge Ruh! (Anonymus, Dresden 1724) möchte man rufen. Wenn man nur wüßte, wo diese Schiene hinführt bzw. hinfährt bzw. hingefahren wird.

Sonntag, 30. Oktober 2011

Tauschgeschäfte

Einen „Gesprächsaustausch mit Menschen islamischen Glaubens“ preist der „Landesbildungsserver Baden-Württemberg“ an.[1] 
Der Tausch findet in einem Gymnasium statt, und zwar im Fach Katholische Religionslehre. Daß man bei einem Gespräch Meinungen, Informationen, vielleicht sogar Gedanken austauscht, leuchtet mir ein. Aber wie man es schaffen soll, ganze Gespräche auszutauschen, das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht indem man sie aufzeichnet und dann die Tonträger oder die Protokolle tauscht? Aber tauscht man dann wirklich die Gespräche aus, nicht bloß die Aufzeichnungen?

Freitag, 28. Oktober 2011

Beziehungsorientierte Empfindung


„Die beziehungsorientierte Marketingdefinition legt den Schwerpunkt auf die Zielsetzung des Marketings, Kundenbeziehungen aufzubauen, zu erhalten und zu stärken, und zwar mithilfe von gegenseitigem Austausch und der Erfüllung von Versprechen (und somit dem Aufbau von Vertrauen).“[1]
Da wird mancher staunen. Bisher bestand das Wesen des Reklamewesens, wird er denken, darin, die Kunden übers Ohr zu hauen, indem man ihnen das Blaue vom Himmel verspricht, um in ein Verhältnis einseitigen Austauschs, also keines Austauschs zu treten. Nun ist der Austausch gegenseitig, also ein Austausch, und es werden Versprechen erfüllt und Vertrauen wird aufgebaut.
Aber keine Angst, da haben sich nicht Haie in Friedfische oder gar Gutmenschen verwandelt; ganz so toll treibt man es in der Branche nicht, man bleibt der Tradition doch im wesentlichen treu. Es geht keineswegs darum, gerechtfertigtes Vertrauen aufzubauen, sondern nur Vertrauen. Dafür hält man sich die Kundenzufriedenheitsforscher.
„Zufriedenheit entsteht als Empfindung des Kunden durch seinen Vergleich von wahrgenommenem Wertgewinn (als Resultat des Kaufs) und erwartetem Wertgewinn (vor dem Kauf).“
Es kommt nur auf die Empfindung an; wer nicht merkt, daß er reingelegt worden ist, hat die gewünschte Empfindung nicht weniger als einer, der nicht reingelegt worden ist, und das reicht ja. Vielleicht ist das ja gemeint, wenn definiert wird: „Kundenzufriedenheit bezeichnet in der Betriebswirtschaftslehre ... ein abstraktes Konstrukt der Sozialforschung.[2]

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Zerwühlte Nähe


„Erleben Sie aufregende erotische Abenteuer mit echten Mitgliedern in Ihrer Nähe“, fordert uns Flirtfair.de auf.
Ganz klar ist die Aussage nicht. Aufregende erotische Abenteuer gibt es wohl auch sonst noch, aber vermutlich nicht mit Mitgliedern, oder doch mit Mitgliedern, allerdings nicht mit echten, und wenn schon mit echten, dann nicht in der Nähe. Da jedoch kann der Verein mit seinen 2 Millionen (ebd.) garantiert echten Mitgliedern in der Nähe abhelfen. Anfassen tut man sich beim Abenteuer vermutlich nicht, Nähe reicht. Mit „Nähe“ wird wohl gemeint sein, daß beispielsweise bei „Bondage kombiniert mit Champagner oder in zerwühlten Laken durch purem [sic!] echten Sex“ der Partner, mit dem man sich vergnügt, nicht etwa in Baltimore oder Rio sitzt, sondern so nahe, daß man „beim Sex“ zum Ortstarif telefonieren kann bzw. könnte, wenn es diesen noch gäbe. (Den Jüngeren wird dieses Wort unbekannt sein, sicher aber kennen sie CityCall.)
Vielleicht ist's aber anders zu verstehen. Die Laken sind möglicherweise doch nicht nur virtuell, und „Nähe“ soll nur ausdrücken, daß das Mitglied in derselben Gegend wohnt, so daß Ehefrau oder -mann leicht dahinterkommen können. Und dann ist natürlich das erotische Abenteuer, wie von der Firma versprochen, mit einiger Aufregung verbunden.

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Sozialer Absturz der Forscher


Forscher waren einst hochangesehene Leute.[1] Sie durchsegelten die Südsee auf der Suche nach paradiesischen Inseln, besiegten Pest und Cholera, gruben Troja aus oder fanden die Formel E = mc2. Staatsmänner, Künstler und Feldherren mußten sich anstrengen, um mithalten zu können im edlen Wettstreit um ewigen Ruhm. "Böt' mir der König seine Krone / Ich dürfte sie mit Recht verschmäh'n". Da hat der Dichter vermutlich – Gralsrittern begegnete man zu seiner Zeit ja kaum mehr – einen Forscher vor Augen gehabt. In den letzten Jahren hat der Ruf der Forscher allerdings ziemlich gelitten.

Das kommt daher, daß sie nicht aufgepaßt haben, als in ihren Reihen Branchen aufkamen wie die Akzeptanzforschung und die Trendforschung (von der Usabilityforschung reden wir lieber gar nicht). Die Akzeptanzforschung ist eine Abteilung des Reklameunwesens. Im wesentlichen beschäftigt sie sich damit, Tricks auszutüfteln, mit denen Dinge, die nicht nur keiner haben will, sondern die man sogar in der Regel mit aller Gewalt von sich wegschiebt, doch noch an den Mann zu bringen sind, z. B. Atomkraftwerke oder Sondermüllkippen oder Nationalparks. Die Verachtung, die der Reklame im allgemeinen entgegenschlägt, jedenfalls wenn man sie so nennt und nicht z. B. Marketing, trifft auch diese ihre Abteilung, und schade ist's darum nicht.
Nicht ganz so verhält es sich mit der Trendforschung. Auf sie überträgt sich eine andere Art der Geringschätzung, nämlich die, unter der ihre Vorgängerdisziplin zu leiden hatte, bevor das Gewerbe akademisiert wurde. Die Vorgängerinnen der Trendforscher gehörten meist zum fahrenden Volk, und unter diesem war nichts mehr. Politisch korrekt ist diese Verachtung heutzutage natürlich ganz und gar nicht. Im Gegenteil, die allgemeine Demokratisierung hat sonst allenthalben dazu geführt, daß man sich seiner niederen Herkunft nicht schämt und sich im Gegenteil dafür entschuldigt, daß der Urgroßvater Rittergutsbesitzer war. Unangenehm ist, daß man selbst Studiendirektor ist und nicht mehr wie die Vorfahren Kutscher oder Köhler.
Eine solch tiefe Kluft trennt allerdings die früheren Wahrsagerinnen und die heutigen Wahrsager nicht. Zwar sind letztere größtenteils männlich und gehören nur selten, wenn überhaupt je, dem Volk der Sinti und Roma an. Hinsichtlich der Art der Prognosen und ihrer Präzision aber ist kaum ein Unterschied auszumachen.
Zum Beispiel:
Trendforscherinnen der alten Art:
Es sieht ganz so aus, als ob Sie im Jahr 2010 Ihrer Karriere recht spürbar auf die Sprünge helfen können. Uranus gibt jedenfalls grünes Licht für neue Vorhaben und Projekte, und Pluto verleiht Ihnen Durchsetzungsvermögen und den nötigen Biss. Speziell im Frühsommer können Sie mit Saturns Unterstützung Nägel mit Köpfen machen und dafür sorgen, dass Erfolge keine Eintagsfliegen, sondern von Dauer sind. Lediglich eines müssen Sie ein wenig im Zaum halten. Und zwar Ihren ausgeprägten Ehrgeiz, der bis Jahresmitte leicht in blinden Eifer ausarten kann.[2]

Trendforscher der neuen Art:
„ManComm sieht für Christian Wulff im Jahr 2010 diese Entwicklungs- und Ereignistrends:
Neue Ideen, neue Interessen, neue Beschäftigungen und/oder Tätiqkeiten können Bedeutung erlangen.
Ein Jahr der Dynamik und markanter Ereignisse, die Erfolg aber auch Misserfolg sein können. Logisches Denken, genaues Überlegen und Zähigkeit helfen weiter. Nutzen guter Beratung und Wirklichkeitsnähe führen zum Erfolg. Zu starke Emotionalität und Sentimentalität vermeiden.“[3]



[1] Das Problem, dem wir uns heute widmen, hat, wenigstens auf den ersten Blick, wenig mit Schwierigkeiten beim Sprechen der deutschen Sprache zu tun, mit der  allgemeinen zerebralen Zerbröselung  aber schon.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Widerspruch im Diversity Management


Unter „Frequently Asked Questions (FAQ) 1. Allgemeine Fragen“ findet man auf einer Seite namens „Gender Studies in Ingenieurwissenschaften“ der „Eliteuniversität“ TU München:
„Was heißt denn ‚Diversity’? Diversity bedeutet Vielfalt. Gemeint ist die Vielfalt in der Gesellschaft, die geprägt ist von z.B. unterschiedlichen Herkunftskulturen, Generationen und unterschiedlichem Geschlecht. Der betriebliche Ansatz des Diversity Management zielt darauf ab, dass diese Menschen vorurteilsfrei zusammen arbeiten und die Vielfalt produktiv in die Arbeit mit einfließt.“[1]
Da bemerkt man einen kleinen Widerspruch: Die Vielfalt der Herkunftskulturen soll produktiv in die Arbeit „mit“ einfließen. Man gibt sich aber große Mühe, „Vielfalt“ durch „Diversity“ zu ersetzen, also die Herkunftskultur, in der man „Vielfalt“ sagt (oder, so bisher im deutschen Wissenschaftsbetrieb, "Diversität"), allen anderen anzugleichen, denn in allen anderen, so glauben diese Leute ja, sagt man „diversity“. Wenn’s aber überall gleich ist, dann ist's aus mit dem erhofften diversitybedingten Produktivitätszuwachs.

Montag, 24. Oktober 2011

Deutschnähe pur

Man bemüht sich neuerdings ja sehr darum, daß die „Migranten“ sich in die deutsche Leitkultur integrieren. Wenn sie aber dann integriert und damit der Unterschicht entstiegen sind und Studenten werden und dann auf http://www.ism.de/de/news_ss09.php ihrer International School of Management in Dortmund lesen:
„Praxisnähe pur. Reale Unternehmensprobleme lösen, Bewerbungsgespräche auf dem eigenen Campus führen und wertvolle Firmenkontakte knüpfen – diese Chance bot sich den ISM-Studierenden beim 2. Workshop & Recruiting Day am 15.05.09. Organisiert wurde der Tag vom Team des Career Centers“
– wenn sie das also lesen und man sie dann, als letzte Prüfung des Gelingens der Integrationsbemühungen, fragt, was das denn für eine Sprache sei, dann werden sie vielleicht nicht gleich antworten können. Nicht nur wegen der amerikanischen Wörter, sondern auch und vor allem wegen „Praxisnähe pur“ und „Studierenden“ werden sie wohl ins Grübeln kommen. 

Sonntag, 23. Oktober 2011

Der Mensch als Faktor


„Denn immer wieder versuchen Machthaber politische Ordnungen anders zu legitimieren: durch göttlichen Auftrag, als Ergebnis der Vernunft oder als geschichtsphilosophisch verbrämte, unvermeidliche Entwicklung. Politik ist aber ohne den menschlichen Faktor nicht denkbar.“ Das schreibt ein Lobbyismus-Forscher.[1]
Ich hab’ mir das fast schon gedacht. Den göttlichen Auftrag muß ja einer vernehmen, die Vernunft muß in einem Menschenkopf wirksam werden, wenn vernünftige Politik entstehen soll, und die unvermeidliche Entwicklung braucht Menschen, die das Unvermeidliche tun. Aber warum unser Forscher nicht Menschen schreibt, sondern menschlicher Faktor, ist mir ein Rätsel; vermutlich, damit man merkt, daß er ein Forscher ist.

Samstag, 22. Oktober 2011

Kurz vorm Siedepunkt


„Qualität, Verbraucherfreundlichkeit, Innovation, neue Lancierungen und Technologie kurbeln das Schönheitsgeschäft in allen Distributionskanälen weiter an“.[1]
„Die Eigenschaften von combifit entsprechen unseren Erwartungen im Hinblick auf Innovation, Verbraucherfreundlichkeit und Differenzierung am Point of Sale in jeder Hinsicht.“[2]
Wenn das Getöse so weitergeht, wird es mit der Freundlichkeit der Verbraucher bald vorbei sein. Sie werden ausrasten, euch die Distributionskanäle verstopfen und den Point of Sale – darunter stelle ich mir so etwas wie den „Info-Point“ auf dem Bahnhof vor – kurz und klein schlagen.

Freitag, 21. Oktober 2011

Rätsel um Gaddafis Ende

„Fragen zum "letzten Gefecht" des Colonels“, titelt heute Telepolis.[1]
Was man uns damit wohl sagen will? Oberst, wie all die Jahrzehnte, heißt er nun nicht mehr. Im Tode ist er Amerikaner geworden, ein Guter also. Aber zum Ausgleich wird die „Internationale“ zitiert, damit jeder weiß: Der ist eines Geistes mit August Bebel und Rosa Luxemburg gewesen, also ein ganz übler Bursche. Sollte es das sein? Oder genau das Gegenteil?

Mitkiller

„Nutztiere sind weltweit mit die größten Klimakiller“, schreibt Die Welt.[1]
Über das Knalldeppenwort Klimakiller will ich mich jetzt nicht noch einmal aufregen. So sind sie halt, die Journalisten. Auch die Frage, ob man einen Killer groß nennen darf, soll uns nicht weiter interessieren; Haarmann war zweifellos ein besonders übler, in gewissem Sinne auch ein sehr erfolgreicher Mörder, aber war er ein großer?
Statt dessen wollen wir dem Wörtchen „mit“ unsere Aufmerksamkeit widmen. „Wer so redet, macht einen kraftvollen Anlauf zum Superlativ und stolpert sogleich einen Schritt zurück“ (Brigitte Grunert im Tagesspiegel). Der Welt-Autor wollte verhindern, daß wir die Nutztiere, weil sie uns immer so liebevoll mit Milch, Eiern und ihrem Fleisch versorgen, über Gebühr in unser Herz schließen, und darum wollte er etwas ganz Schlimmes über sie sagen: Sie sind nämlich die größten Klimakiller. Aber dann stockt er. Es könnte ja sein, daß er demnächst zu schreiben hat, die Autos oder die Flugzeuge oder die Radfahrer seien noch größere, oder das Internet sei „der wahre Klimakiller“ (so Die Welt am 22. Sept. 2007). Also formuliert er: Nutztiere sind unter anderem die größten Klimakiller.
Gerade noch rechtzeitig wird ihm bewußt, daß sich dadurch gar nichts ändert. Die Behauptung lautet immer noch, daß sie die größten Killer sind, nur sind sie außerdem noch etwas anderes, z. B. Lebewesen oder Fleischproduzenten. In seiner Verzweiflung ersetzt er „unter anderem“ durch „mit“. Wird schon irgendwie gehen, denkt er. Leider ist „mit“ eine Präposition und hat an dieser Stelle gar nichts verloren. Er hätte schreiben können: „Nutztiere gehören, zusammen mit etlichem anderen, z. B. den Autos, zu den größten Klimakillern.“ Aber das kommt ihm zu kompliziert vor. Man hat ihm beigebracht: Ein Journalist schreibt knapp und klar. Bedauerlicherweise geraten diese Forderungen manchmal miteinander in Konflikt.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Killer

Die Zeit titelt: „Klimakiller ersten Ranges“, und meint „Brandrodung, Weiden im Regenwald, rülpsende Kühe“.[1]
Die österreichische Filiale von Greenpeace schreibt: „In herkömmlichen Kühlschänken wurden Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) verwendet, die mittlerweile aufgrund ihrer Ozonschicht-zerstörenden [sic!] Wirkung weltweit verboten sind. Als Alternative entwickelte die Chemische Industrie jedoch teilhalogenierte Fluorkohlenwasserstoffe (H-FKW). Diese Stoffe sind zwar keine Ozonschichtkiller, zählen jedoch zu den sogenannten Klimakillern.“[2]
Ich frage mich, wie diese Stoffe Ozonschichtkiller, ja Klimakiller sein können. Killer ist englisch und heißt Mörder, wobei aber zumindest die Deutschen nicht jeden Mörder einen Killer nennen, sondern nur einen ganz kaltblütigen, z. B. einen Auftragsmörder. Daß der Kühlschrank als Ganzer die nötige Kaltblütigkeit besitzt, wenigstens in irgendeinem übertragenen Sinn, könnte man sich zur Not schon vorstellen. Aber Mörder? Ist er ja auch nicht, sagt Greenpeace, nur die Stoffe sind Mörder. Denen fehlt allerdings, so meine ich, zum Killer die metaphorische Kaltblütigkeit.
Aber selbst wenn sie diese hätten: Sind sie dann wirklich Mörder? Wäre das nicht so, als ob man nicht den Schützen, sondern die Pistole des Mordes anklagte? Auch wenn die Theorie Bruno Latours dies zu tun nahelegt, bleibe ich dabei: Nicht die Stoffe, sondern ihre Hersteller oder Besitzer oder Benutzer müßte man Mörder nennen. Und bei rülpsenden Kühen ist's auch nicht anders. Im mittelalterlichen England soll man zwar Hunden den Prozeß gemacht haben, aber da sind wir inzwischen doch weiter. Die Eigner der Kühe, nicht diese, und mögen sie noch so tückisch rülpsen, sind die Klimakiller.
Allerdings befriedigt auch das noch nicht. Denn was soll man sich unter der Ermordung des Klimas vorstellen? Wann ist das Klima tot? Wenn es nicht mehr regnet? Aber dann ist es doch immer noch da, sozusagen lebendig, es ist jetzt ein Wüstenklima geworden. Wenn es eiskalt wird? Aber dann hat es sich doch nur in ein arktisches Klima verwandelt. Wenn es affenheiß wird? Dann ist es zu einem tropischen Klima geworden, aber tot ist es noch lange nicht. Wenn sich die ganze Atmosphäre auf und davon macht? Einfach in den Weltraum verschwindet? Das wär’s, dann gäbe es in der Tat kein Klima mehr. Aber das traue ich sämtlichen Kühlschränken der Welt nicht zu. Selbst wenn ihnen die Autos, Kohlekraftwerke, Kachelöfen und Hochleistungsrinder dabei helfen, schaffen sie das nicht.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Austria felix?


„Ein Themenbereich besteht meist aus einer Erläuterung, Qualitätskriterien, der Fragestellung und Hilfestellungen, die Downloads und weiterführende Informationen enthalten können.“ Das steht in der „Bedienungsanleitung FGÖ-Projektguide“, und das wiederum ist „ein Service des Fonds Gesundes Österreich“.[1]
Daß zwischen einem Thema und einem Themenbereich kein Unterschied besteht und daß zwischen Hilfestellung und Hilfe auch keiner ist, es sei denn, man verstünde unter Hilfestellung beispielsweise eine besondere Stellung der Helfer bei schwierigen Turnübungen, soll uns jetzt nicht interessieren, sondern folgendes:
Ein Thema besteht nicht aus Erläuterungen, Fragen und Hilfen. Auch wenn man noch so viele Erläuterungen, Fragen und Hilfen auf einen Haufen wirft, ja selbst wenn man sie kunstvoll zusammenfügt: Nie und nimmer wird ein Thema daraus. Nicht uninteressant ist aber auch, was in den Downloads drin sein mag. Weiterführende Informationen jedenfalls nicht, denn die sind ja in den Hilfestellungen enthalten, zusammen mit den Downloads. Sind vielleicht Informationen in den Downloads drin, die nicht weiterführen? Der Frage, ja der Fragestellung, wieso die Bedienungsanleitung Projektguide heißt, sollte man nachgehen. Wollte man aus Gründen der political correctness vielleicht das Wort Führer vermeiden? Wie auch immer, um die Gesundheit Österreichs, vor allem die mentale, scheint es nicht zum Besten bestellt.

Dienstag, 18. Oktober 2011

Schwarzer Block


Was die Polizei und die bürgerliche Presse „die Gewaltbereiten“ nennen, hieß intern und unter den nicht oder doch weniger gewaltbereiten Demonstranten seit mindestens drei Jahrzehnten „Schwarzer Block“. Von jetzt an, so erfahre ich eben (17.10.11) aus der taz, hat man aber von den Black-Blockern – deutsch für Black Blockers – zu sprechen. Viele meinten ja schon immer, daß der Schwarze Block in Wirklichkeit eine Abteilung der Kulturabteilung der amerikanischen Streitkräfte ist, oder so etwas ähnliches. Jedenfalls eine Agentur des US-Imperialismus.

Montag, 17. Oktober 2011

Lebenslauf-Optimierer

„Lebenslauf-Optimierer“ gibt es neuerdings, und zwar derart häufig, daß man gleich eine ganze Generation danach nennt.[1] Nach Meinung namhafter Linguisten (siehe Negerprinzessin) muß man ältere literarische Werke ins heutige Deutsch übersetzen, damit sie auch von den jetzt lebenden Generationen verstanden werden. Das gilt sicher auch für die Typisierung der Literatur. Wilhelm Meisters Lehrjahre ist ein Lebenslauf-Optimierer-Roman. Sicher, einiges von der Bedeutung des Begriffs Bildungsroman geht dabei verloren, aber was soll’s, gemessen an dem Gewinn ist das zu vernachlässigen. Der besteht darin, daß sich ein heutiger Student (d. h. ein Stuzubi) bei dem neuen Titel etwas einigermaßen Zutreffendes denken kann, während er bei „Bildungsroman“ vielleicht irrtümlich glaubt, da gehe es um die Vorbereitung auf TV-Quizsendungen.



[1] http://www.sueddeutsche.de/karriere/zeitdruck-im-bachelor-studium-generation-der-lebenslauf-optimierer-1.1135000

Sonntag, 16. Oktober 2011

Ein Leser schreibt mir

„Sehr geehrter Herr 


Sie mögen ja mit allem Recht tun, allein Ihre Philisterhaftigkeit regt auf.
Sie haben,meines Dafürhaltens, jedoch die Mittelmäßigkeit auch nicht überwunden.Sie kommen in den Geruch eines Prototyps des deutschen Professors.Ihre Selbstüberhebung über die Zeiten, die Veröffentlichung ihrer Abschiedsrede, als auch die Vorab- Maßregelungen Ihrer Studenten, durch Ihre nichtendenwollenden Rechtsschreib- Traktate, war ein Fehler. Sie sind unglaubwürdig: Weil Sie einzig in der Lage sind zu schimpfen.
Sie können einem leid tun schon deshalb, weil Sie über Maßregelungen anderer nicht hinauskommen. Im Grunde haben Sie, außer dem Umstand das Sie natürlich Recht haben, nichts anzubieten, denn an Ihnen wird ja der klügste Denker ohnmächtig.Aber trösten Sie sich: An Ihrem Wesen wird die Welt genesen!


Mit aufrichtigem Beileid 
U. Taake“

Sehr geehrte(r) U. Taake,
eine Frage vorweg: Habe Sie bei mir studiert? Ich vermute das, weil Sie ja wissen, daß ich die Studenten vorweg maßregele. Oder meinen Sie, daß meine nichtendenwollenden Rechtsschreib-Traktate Vorab-Maßregelungen der Studenten sind? Daß ich also damit speziell auf Studenten ziele, vielleicht weil ich weiß, daß sie eben diese Fehler machen werden, und da stauche ich sie präventiv zusammen, damit ich nachher nicht so viel korrigieren muß? So habe ich das bisher gar nicht gesehen. Wäre aber eine interessante Idee.
Sie meinen, die Veröffentlichung meiner Abschiedsvorlesung zeige meinen schlechten Charakter. Wenn, dann ist nicht nur meiner schlecht. Das Publizieren ist nämlich, in der einen oder anderen Form, in der Wissenschaft üblich. Man pflegt hier das, was man sich ausgedacht hat, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Sie glauben, ich sei ein Pedant, ein „Philister“. Stellen Sie sich bitte folgendes vor: Ein halbwegs musikalischer Mensch sitzt im Konzert und hält es kaum aus, weil jeder dritte Ton falsch ist, die Geigen quietschen und ein Liebeslied so dröhnend vorgetragen wird, als wäre es ein Militärmarsch. Ein unmusikalischer sagt zu ihm: Ich höre keinen Mißton, und das Lied hat, als ich klein war, meine Großmutter immer gesungen, ich bin ganz weg vor Rührung; so ein schönes Konzert, und Sie Pedant kritteln daran herum!
Ich schimpfe unaufhörlich, schreiben Sie. Das ist ganz falsch, ich schimpfe überhaupt nicht. Ich mache mich lustig, ich spotte, und das können Sie für verwerflich halten – schon in der Bibel steht ja, daß man nicht bei den Spöttern sitzen soll –, aber mit Schimpfen hat es nichts zu tun. Sie schimpfen übrigens auch nicht. Was Sie schreiben, ist der Ausbruch eines Ertappten, der sich nicht zu helfen weiß. Schimpfen ist etwas völlig anderes – z. B. das, was die Mutter tut, wenn die Kinder sich die Kleider schmutzig gemacht haben; jedenfalls meist, denn manchmal tobt sie, und das ist auch etwas anderes als schimpfen.
Eine Gemeinsamkeit haben wir allerdings doch. Sie stellen voller Empörung fest, daß ich meine, Recht zu haben. In der Tat, ich halte meine Meinung für richtig. Sie aber auch. Das bringt Sie jedoch mit mir nicht näher zusammen als mit irgendeinem anderen, denn wir beide haben es mit allen Menschen gemeinsam. Jeder, ohne jede Ausnahme, hält die eigene Meinung für richtig. Hielte er eine andere für richtig als die seine, wäre ja diese und nicht seine seine Meinung.
Sie behaupten schließlich, ich hielte mich für den Allergrößten, sei in Wirklichkeit aber nur Mittelmaß. Da irren Sie sich sehr. Die Entfernung zwischen mir und den Großen – von den Allergrößten ganz zu schweigen – halte ich für um Einiges beträchtlicher als die zwischen mir und den Kleinen, auch den Allerkleinsten. Ich halte mich also wenn's hoch kommt für unteres Mittelmaß. Aber für das, was ich in diesem Blog mache, reicht es. Dazu braucht man keine besonderen Fähigkeiten. Nur halbwegs, wirklich nur halbwegs deutsch muß man können, und ein wenig Aufmerksamkeit ist nötig, und man muß sich darum bemühen zu verstehen, was in einem selber vorgeht, wenn man ins Deppendeutsche verfällt.

Dieses aber scheint mir nicht zuletzt davon zu kommen: daß man zwischen sich und den Großen keinen Abstand mehr wahrhaben will, daß man nicht mehr nach oben schaut, dahin, wo man etwas lernen könnte, sondern sich umblickt, ob denn möglichst viele im eigenen Milieu so reden wie man glaubt, reden zu dürfen; sind es viele, dann, so meint man, wird man's wohl dürfen. Die Konjunktur des Deppendeutschen kommt aber umgekehrt auch davon, daß diejenigen, die den jeweils neuesten sprachlichen Schwachsinn einführen, sehr wohl nach oben sehen, nämlich dahin, wo nach Meinung dieser gedrückten Seelen oben ist. Das ist heutzutage vor allem die große Welt, in der man Englisch spricht. Und es ist die Welt der Großen.  Das ist heute die der Managerkaste, wo man Wörter sagt wie markenrelevante Wirklichkeiten und Alleinstellungsmerkmal, und die der „Promis“, also die Welt, in der alles ein Funspaß (das gibt’s wirklich, nämlich im Pinzgau[2]) ist und es an Widrigkeiten allenfalls mal einen Beautykrieg gibt, weil man die Hauptübel des Lebens, denen gewöhnliche Menschen nicht ausweichen können, in den Griff bekommen hat, z. B. mit Anti-Aging.


Mit freundlichen Grüßen
Ludwig Trepl


[2] siehe http://www.fischerhof-pinzgau.at/homepage/index-hofInfo.htm


Samstag, 15. Oktober 2011

Wiedergutmachung für Mißbrauchsopfer


„Ohne politischen Druck auszuüben auf die Kirchen und Vereine, sollten diese von sich aus tätig werden, an die Opfer herantreten und Wiedergutmachungen in Aussicht stellen“, steht in der taz vom 26. Mai 2011.
Das wird nicht leicht sein für die Kirchen und die Vereine. Sie sollen von sich aus tätig werden, ohne auf sich politischen Druck auszuüben. Vielleicht bringt sie das ja ganz durcheinander. In einer Situation, wo sie bereits eine gewisse Bereitschaft signalisiert haben, Wiedergutmachungen zu leisten, sollte man besser vorsichtiger mit ihnen umgehen.

Freitag, 14. Oktober 2011

Glückseligkeitslehre

„Nach dem Verständnis Ardells beschreibt Wellness einen Zustand von Wohlbefinden und Zufriedenheit und besteht aus den Faktoren Selbstverantwortung, Ernährungsbewusstsein, körperliche Fitness, Stressmanagement und Umweltsensibilität.[1]
Nur am Rande sei auf die Merkwürdigkeit hingewiesen, daß nicht etwa Ardell die Wellness beschreibt, sondern die Wellness einen Zustand. Ich frage mich aber vor allem, was „besteht aus den Faktoren“ bedeuten soll. Besteht denn Zufriedenheit aus Streßmanagement? Ist das nicht so, als wollte man behaupten, Currywurst bestehe aus elektrischem Strom, weil man den zur Hitzeerzeugung braucht? Mit „Faktoren“ soll wohl gesagt werden, daß Streßmanagement usw. auf die Zufriedenheit einwirken; dann würde ich verstehen, was gemeint ist.  Aber ich glaub’s nicht. Denn fehlt da nicht einiges? Reicht denn für das Wohlbefinden „Ernährungsbewußtsein“, wenn es an dem mangelt, wovon man sich ernähren könnte? Und braucht man wirklich alle genannten „Faktoren“, wenn man Wohlbefinden und Zufriedenheit empfinden will? Das würde mich wundern. Bei der „körperlichen Fitneß“ kann ich mir noch vorstellen, daß sie – in Grenzen – für die Wellness notwendig ist; wenn einer gar nicht mehr laufen kann vor Muskelschwäche, wird er nicht mehr so recht zufrieden sein. Doch man sollte nicht so mir nichts dir nichts darüber hinweggehen, daß man über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende Leute, die zu Wohlbefinden und Zufriedenheit Anlaß haben, durchaus anders dargestellt hat als solche, die das Programm eines Fitneß-Studios erfolgreich absolviert haben. Die sich in einem Zustand von Wohlbefinden befindenden Menschen waren im allgemeinen von einer gewissen Leibesfülle; man denke etwa an Breughels Schlaraffenland. Aber vor allem: Wie kommt die „Umweltsensibilität“ da hinein? Bedeutet dieses Wort nicht, daß man angesichts von Umweltzerstörungen besonders empfindlich reagiert? Sich ärgert, ja aufregt, wenn man sie wahrnimmt? Kann denn jemand, der davon geplagt wird, heutzutage Anlaß zu besonderer Zufriedenheit haben?

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Stakeholder

„Als Stakeholder (engl.) wird eine natürliche Person (der Mensch in seiner Rolle als Rechtssubjekt) oder eine juristische Person (z. B. eine Institution) bezeichnet, die ein Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses ... hat.“[1]
Wozu Wikipedia doch gut ist! Vor 15 oder 25 Jahren tauchte mit einem Schlag in einer Unzahl von Texten, die ich lesen mußte – Fachliteratur und vor allem Studentenarbeiten – „Stakeholder“ auf. Ich verstand nicht, wozu das Wort nötig war. Was die Autoren mir sagen wollten, war, so schien mir, auch nichts anderes, als sie mir vorher und mit ähnlichem Erfolg ohne dieses Wort zu sagen versucht haben. Und ich habe bis heute nicht begriffen, was es bedeutet. Mein Eindruck war, daß es in den allermeisten Fällen „Leute“ auch getan hätte, in manchen schien es mir aber nur um die zu gehen, die bei irgendeiner Sache tüchtig mitmischen.
Nun erfahre ich: In meiner Rolle als Rechtsubjekt habe ich das Recht, von A nach B zu laufen, ich übe dieses Recht aus und habe ein Interesse am Ergebnis des Laufprozesses, möchte nämlich ankommen. Ich bin folglich ein Stakeholder, bin es immer gewesen und werde es immer sein, in jedem Moment meines Lebens. Der Frage, ob das erlaubt oder verboten ist, was ich tue, kann ich ja nicht entgehen, bin also jederzeit Rechtssubjekt, und interessiert bin ich auch immer an irgendwas, sonst würde ich nichts tun, nicht einmal schlafen. Ich lag schon richtig mit der Vermutung, daß „Stakeholder“, wenn es nicht gerade um bloß juristische Personen geht, nichts anderes als „Leute“ bedeutet. Man sollte diese vulgären Wörter ganz vermeiden, deren Gebrauch den Rangunterschied nicht erkennen läßt zwischen den gewöhnlichen Menschen und denen, die wissenschaftliche Aufsätze schreiben dürfen. Auch in wissenschaftlichen Fächern, in denen man diesbezüglich bisher eher zurückhaltend war, sollte man konsequent „Stakeholder“ benutzen. Zum Beispiel die Historiker: Im Mittelalter sind die Stakeholder auf dem Marktplatz zusammengelaufen, um den Hinrichtungsprozeß, an dessen Verlauf und Ergebnis sie ein Interesse hatten, beizuwohnen.
„Aber nein!“ werde ich belehrt. „Daß jeder Mensch jederzeit ein Stakeholder ist, macht dieses Wort keineswegs überflüssig. Jeder Mensch ist auch jederzeit ein Sterblicher, und Sünder sind wir allzumal. Das macht diese beiden Wörter doch nicht überflüssig!“ Gut, das sehe ich ein. Ich bleibe aber erstens dabei, daß „Im Mittelalter sind die Leute ...“ dem „Im Mittelalter sind die Stakeholder ...“ vorzuziehen ist, und daß es in mindestens 95 Prozent der Fälle, in denen der Zeitgeist das ihm auf Zunge und Seele brennende „Stakeholder“ nicht zurückhalten kann, ebenso ist. Und zweitens frage ich mich, warum in den wenigen Fällen, in denen der Sache in der Tat durch ein besonderes Wort gedient ist, es ausgerechnet „Stakeholder“ sein muß.
Lange muß man da nicht nachdenken. Als vor einem Vierteljahrhundert die neoliberale Ideologie sich in der zivilisierten Welt auszubreiten begann wie seinerzeit die Beulenpest in Europa, hatte sie den Stakeholder in ihrem Troß. Das Zentralstück des Neoliberalismus ist bekanntlich der Glaube, daß die Dinge, in denen der Reichtum der Nationen besteht, nicht, wie die zu kurz Gekommenen meinen, erarbeitet wird, sondern in Gestalt von Geld vom Himmel purzelt wie weiland die Sterntaler und daß es nur noch darauf ankommt, es einzusammeln. Dazu reicht es aber heutzutage nicht, einfach sein Hemd aufzuhalten, sondern man muß bei einem Spiel mitmachen und sein Leben als durch und durch in eben diesem Spiel bestehend begreifen. Deshalb kam damals der merkwürdige Brauch auf, in den Nachrichten die Börsenkurse zu verlesen. Der jüngeren Generation ist das andächtige Lauschen, wenn sie dran sind, so selbstverständlich geworden wie früheren das Tischgebet; der Zweck ist ein ähnlicher und es hilft wohl genauso viel. Das Spiel, in dem das Leben besteht, ist ein Glücksspiel und zugleich ein Geschicklichkeitsspiel, es ist anstrengend und man kann dabei ins Schwitzen kommen. Darum sprechen die Spieler lieber von Leistung statt von Spiel und nennen sich Leistungsträger.
Stakeholder kommt (s. o.) aus dem Englischen. Soweit ich herausfinden konnte, findet man unter denen, die sich mit der Herkunft des Wortes genauer befassen, zwei Auffassungen: Erstens, ein stakeholder ist einer Spieler, dessen Einsatz auf dem Spiel steht. Wikipedia schreibt: „’Stake’ kann mit ‚(Wett-)Einsatz, Beteiligung’ übersetzt werden, ‚holder’ mit „Eigentümer, Halter’. Der Stakeholder ist daher jemand, dessen Einsatz auf dem Spiel steht und der daher ein Interesse an Wohl und Wehe dieses Einsatzes hat.“[2] Zweitens, ein stakeholder ist ein Unparteiischer, der die Wetteinsätze verwahrt.
Wie auch immer, jedenfalls ist er einer, der an Spielen um Geld beteiligt ist. Man belegt also jemanden, dessen Überleben vom Ausgang eines Planungs- und Entscheidungsprozesses abhängt, weil man ihm z. B. buchstäblich das Wasser abgräbt, genauso wie einen, der einiges Geld verlieren könnte, das er in ein beteiligtes Unternehmen investiert hat – aus seiner Perspektive also in ein Spiel –, mit dem gleichen aus der Sphäre des Zockens stammenden Begriff. Nicht jedem will das so ganz passend erscheinen.