Freitag, 30. März 2012

Revolutionäres aus den USA

„Direkte Verkaufe vor Ort“ lautet eine Überschrift in der taz vom16.9.2011.
„Vor Ort“ hat Gerhard Polt [1] bereits kommentiert und dem traut man sich ja kaum zu widersprechen, aber ich wage es trotzdem: So schlimm ist es nicht. Aber die Verkaufe! Hätte irgendeiner im deutschen Sprachraum gedacht, daß die Verkehre[2] und Bedarfe[3] sich noch überbieten lassen?
Im Artikel steht dann:
„’Organizing’ etwa ist eine aus den USA importierte Methode, bei denen [sic!] hauptamtliche Gewerkschafter versuchen, mit nichtorganisierten Beschäftigten eines Betriebes in Kontakt zu kommen und gemeinsam Konflikte anzugehen. Auf diese Weise sollen mehr Mitglieder rekrutiert werden.“
Tja, die Amis. Die erfinden doch glatt etwas, was man fast überall auf der Welt vor hundert Jahren auch schon gemacht hat. Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, daß eine der Haupttätigkeiten der hauptamtlichen Gewerkschafter, seit es solche gibt, darin besteht, mit nichtorganisierten Beschäftigten in Kontakt zu kommen und gemeinsam Konflikte anzugehen, und daß sie auf diese Weise neue Mitglieder gewinnen wollen, war auch schon immer so. Ich würde mich wundern, wenn das jetzt auf ganz andere Weise gemacht würde als bisher. Was die Amerikaner aber viel besser hinbekommen als alle anderen: Sie geben der Sache einen Namen in ihrer Sprache: organizing. Und schon wird es ein Exportschlager. Der Vorgang erinnert sehr an die Erfindung des Walking, das ja, obwohl schon vor 200 Jahren erfunden[4], auch erst so richtig in Gang kam, nachdem die Amerikaner dieser Erfindung ihre Sprache geliehen haben und darum jeder glaubt, sie käme von ihnen.

Mittwoch, 28. März 2012

Lokführer

Kennen Sie das auch? Manchmal leidet man unter der Vorstellung, in seinem Leben im Grunde nichts getan zu haben, was der Rede wert wäre. Man fühlt sich unausgelastet und sehnt sich nach einer Aufgabe. In diesen Fällen ist es ratsam, in Wikipedia zu blättern. Besagte Vorstellung wird sich rasch als eine wahnhafte herausstellen und dann verflüchtigen.
Unter der Lokomotionsfunktion einer Führungskraft versteht man die Aufgabe, mittels der Führung eine Bewegung und Veränderung bei den Geführten zu bewirken.“[1]
Was hab’ ich nicht in meinem Leben schon für Lokomotionsfunktionen ausgeübt! Ich könnte als Beruf geradezu Lokomotionsführer angeben! Schon sehr früh fing das an. Manchmal verging, glaub’ ich, kaum eine Minute, in der ich nicht mittels der Führung eine Bewegung bei meinen jüngeren Geschwistern bewirkte. Ich setzte dabei von den Führungsstilen, die Wikipedia unter diesem Stichwort auflistet, nämlich autoritäre, demokratische und „Laissez-faire-Führung (aus dem Französischen: ‚gewähren lassen’)“[2] vornehmlich den erst- und den letztgenannten ein, womit ich mich von der heutigen Betriebswirtschaftslehre unterschied, die, wie Wikipedia behauptet, „eher zum demokratischen Führungsstil“ tendiert (ebd.). Das kann ich allerdings nicht so recht glauben.

Montag, 26. März 2012

Konkrete Wertlehre

„Wenn die Naturzerstörung nicht gebremst wird, könnte die Menschheit jährlich Billionen von Dollar verlieren. Das geht aus dem TEEB-Report hervor, der am Mittwoch auf der UNO-Artenschutzkonferenz im japanischen Nagoya veröffentlicht wurde. .... Teile der Studie wurden bereits veröffentlich, nun haben die rund 500 Autoren den Endbericht vorgelegt. Die Studie gibt Ökosystemen einen konkreten Wert und fordert Staaten auf, diesen auch bei volkswirtschaftlichen Rechnungen einzubeziehen.“[1]
Daß die Menschheit Billionen von Dollar besitzt und nicht etwa Herr Gates zusammen mit Herrn Oetker und Herrn Bertelsmann oder wie der jetzt heißt, ist eine Revolution, an die man sich erst gewöhnen muß. Doch das nur nebenbei. Der konkrete Wert der Ökosysteme sind also jene jährlichen Billionen von Dollar. Dagegen liegt der abstrakte Wert eines Ökosystems z. B. darin, daß es das Wasser oder die Luft reinigt. Das ist gut beobachtet. Das wahre Konkrete im Kapitalismus ist das Geld, in dem, wie es einst hieß, abstrakte Arbeit verkörpert ist.

Freitag, 23. März 2012

Der Beamte als Leitbild


Seit die jungdynamischen Manager und die modernen Performer oder wie diese Wiedergänger der Kommis und Ladenschwengel alle heißen mögen sich derart breitgemacht haben, daß man vor ihnen und vor allem vor ihrem unsäglichen Geschwätz nirgends mehr Ruhe hat, wünsche ich mir den Typ des preußischen Beamten zurück. Ich sehne mich danach, daß der Ansager im Zug schnarrt: „Speisewagen ab sofort geöffnet!“, und nicht säuselt: „... Bordrestaurant wo Sie unser freundliches Team sehr herzlich begrüßt und wie wär's mit einem leckeren ...“. 
Aber nun entdecke ich in der Süddeutschen ein Rätsel unter der Überschrift „Amtsdeutsch“. Da muß man raten, was Blockbeschulung, Lautraum, Luftverlastung, Bedarfsgesteuerte Fußgängerfurt, Raumübergreifendes Großgrün, Nicht lebende Einfriedung, Personenvereinzelungsanlage, Lebensberechtigungsbescheinigung und Beelterung bedeuten. Und sofort ist der über die Jahrhunderte gewachsene Haß auf die Beamten wieder da.

Mittwoch, 21. März 2012

Unschuldige und schuldige Opfer

„UN rufen Hungersnot in Somalia aus - unschuldige Opfer des Klimawandels“[1]
Früher kamen die Hungersnöte über die Menschen, heute warten sie, bis sie einer ausruft. Das ist doch ein Fortschritt.
Aber das nur am Rande. Ich möchte wetten, daß es schuldige Opfer des Klimawandels nie geben wird. Roger Köppel, Chefredakteur der extrem rechtsliberalen Schweizer Zeitschrift Weltwoche, pflegt auf die Kritik an den Banken zu sagen: Die Banken, das sind wir alle. Ich aber glaube nicht, daß am Klimawandel „wir alle“ schuld sind. Die Schuldigen wird man kaum jemals Opfer nennen können. Sie liegen dann halt nicht mehr in der Karibik, sondern in Grönland unter Palmen.
Das da: "Merkel: Jedes unschuldige Opfer in Afghanistan ist eines zu viel"[2] scheint mir etwas anders zu liegen. Abgesehen davon, daß nach Auffassung der Kanzlerin kein schuldiges Opfer eines zu viel zu sein scheint, es von denen also wohl gar nicht genug geben kann: Da ist wohl „schuldig“ nicht im Sinne von „am Krieg schuld“ gemeint, sondern etwa so, wie man von jemandem, der an einer unübersichtlichen Stelle über die Straße geht und überfahren wird, sagt: selber schuld.

Montag, 19. März 2012

Deutsch erobert das Netz


„Heute sind es schon 86 follower, die bei auf_deutsch mitmachen. .... Wir berichten hier regelmässig über Leute, die auf deutsch twittern und stellen den anderen Twitter Nutzern interessante Inhalte vor.“[1]
Da kann man ja gespannt sein, ob die das schaffen werden: auf deutsch. Nicht daß da follower steht – das ist zwar nicht deutsch, und auch nicht so gemeint, sonst hätte man es nicht klein geschrieben, aber immerhin wird es bald deutsch sein – läßt mich zweifeln, sondern „Twitter Nutzern“; und „Inhalte“ natürlich.

Freitag, 16. März 2012

Es geht voran

Manche meinen, seit den Pythagoreern, andere, seit den alten Babyloniern arbeite die Menschheit systematisch am Fortschreiten der Wissenschaft. Nach zweieinhalbtausend Jahren ist, wie man gleich sehen wird, der Höhepunkt der Erkenntnistiefe erreicht, jedenfalls in der Sparte Kommunikationswissenschaften:
„Deshalb einige ‚Wording’-Regeln: Wenn Sender (Referent, Vortragender, Autor) und seine Empfänger (Schulungsteilnehmer, Zuhörer, Kunde, Leser) nicht eine gemeinsame Sprache sprechen, kann man sich auch nicht verstehen. Man redet aneinander vorbei.“[1]
Man darf aber hoffen, daß das nur ein Zwischengipfel ist.

Mittwoch, 14. März 2012

Still gestanden


Seit einigen Monaten fällt mir eine rasante Zunahme des englischen Wortes „still“ – allerdings großgeschrieben, also fälschlicherweise als Lehnwort benutzt – auf, und zwar zur Bezeichnung eines Standfotos aus einem Film. Bis vor kurzem kannte ich es nur aus dem Internet, und zwar in den dort üblichen Pidgin-Texten, also solchen, die man zwar bei Google unter „deutschsprachig“ findet, die aber nicht den Anspruch erheben, deutsch zu sein, allerdings auch nicht englisch. Nun aber taucht es auch in Druckwerken auf, die deutsch sein möchten. Am 8.8.11 war es zwei Mal in der taz zu sehen („Still aus dem chinesischen Erzählexperiment ‚Thomas Mao’“, „Still aus ‚Videokaraan’“). Die Verteidiger der Anglisierung des Deutschen – sie sind selten, aber meist eifernd und vor allem überaus durchsetzungsfähig, denn sie sprechen ja nur die geheimen Wünsche der großen Mehrheit der Deutschen aus, die die Anglisierung verabscheut – werden wieder sagen: na und? Damit wird das Deutsche doch wieder einmal bereichert, denn „Standfoto“ trifft's doch gar nicht richtig, wer würde denn „Standfoto aus ...“ schreiben? Und außerdem ist's ökonomischer, „Still“ ist kürzer als „Standfoto“.
Aber wer hätte denn „Standfoto aus ...“ geschrieben? Sondern man hätte vor einigen Wochen einfach den Filmtitel hingeschrieben, vielleicht ein „Aus“ davor, also noch kürzer, oder man hätte die dargestellte Szene beschrieben, vielleicht mit einem einzigen Wort. Nein, es gibt, wie meist, keinerlei Bedarf, der Grund der Neuerung ist auch hier, wie fast immer, nichts als die Hoffnung des Schreibers, cool und weltläufig zu erscheinen. Gerade bei der taz hat man das ja nötig.


Dienstag, 13. März 2012

Heilig’s Manterl

„Wie Martin Runge betont, hatte sich auch die Staatsregierung zur Monopolrechtfertigung gerne das scheinheilige Deckmäntelchen der Bekämpfung der Spielsucht umgehängt.“ Das schreiben die bayerischen Grünen.[1]
Martin Runge hat das nicht betont, sondern behauptet. Betont hat er seine Behauptung, und das ist etwas ganz anderes.
Was aber mag ein scheinheiliges Deckmäntelchen sein? Wissen wir nicht seit Kant, daß selbst der Mensch, auch wenn er sich der Heiligkeit anzunähern beständig bestrebt sein muß, zur derselben nie gelangen kann, weil er nun einmal „keinen heiligen Willen, d.i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre“, hat? Erklärt sich die merkwürdige Aussage der Grünen vielleicht aus einem gewissen archaisch-heidnischen, vom Katholizismus konservierten Glauben der Bayern, daß Menschen, ja sogar Dinge, beispielsweise Deckmäntelchen, doch heilig sein können, weshalb es naheliegt, ihnen auch Scheinheiligkeit zuzutrauen?

Montag, 12. März 2012

US-Superwürger

„Während in Florida Schlangen die Natur in den Würgegriff nehmen, beunruhigt in Deutschland eine kleine Fliege die Forscher.“[1]
Was da in Deutschland geschieht, ist nun wirklich nicht erwähnenswert. Wer kennt das nicht, daß ihn eine kleine Fliege beunruhigt, mit derlei lästigen Erlebnissen stehen die deutschen Forscher und die Forscher insgesamt wahrlich nicht allein. Aber die Geschehnisse in Florida dürfen uns nicht kalt lassen. Bisher haben Schlangen gerade mal ein Schwein, wenn's dumm lief, auch mal eine Zirkusartistin in den Würgegriff genommen. Und nun die ganze Natur! Was müssen das für Viecher sein! Na ja, in Amerika neigte man ja schon immer zum Gigantischen.

Freitag, 9. März 2012

Stückweise unsterblich

„Torhüter Chiotis machte sich ein Stück weit unsterblich,“ schreiben heute[1] die Praktikantinnen der taz, einen Bericht über das Achtelfinale der Champions League ergänzend.
Manchmal muß man, um sie in ihrer ganzen Schönheit würdigen zu können, Metaphern wörtlich nehmen. Aber hier gelingt mir das nicht.



[1] 9.3.2012

Donnerstag, 8. März 2012

Neusprech: Jobmaschine

Maschinen sind Jobmaschinen eigentlich nicht, höchstens ganz selten. Meist handelt es sich um „Einkaufszentren“ oder „-center“ oder ähnliches. Gemeinsam ist ihnen, daß durch sie einige Arbeitsplätze entstehen, in aller Regel aber im selben Zug einige mehr vernichtet werden. Orwell hat das Wort noch nicht gekannt, er hätte es sonst in seinem Werk verwendet.

Dienstag, 6. März 2012

Studierende bekommen Nachwuchs

Da werden sich die Freunde politisch korrekten Sprechens aber freuen. Und wir dürfen uns auf einen Jubelartikel im Sprachlog von Prof. Stefanowitsch freuen. „In umfassenden Modellberechnungen kombinierten die Forschenden Daten zu invasiven Tier- und Pflanzenarten ... Bevölkerungswachstum, Handel und Reichtum: Dies sind laut den Forschenden die Ursachen ... Laut den Forschenden liesse sich zum Beispiel der Marktpreis von «Risikoartikeln» ...“[1]
Das Wort „Forscher“ kommt in dem Artikel nicht mehr vor. Was kommt als nächstes? Ob die Opernwelt die Sängerinnen und Sänger zugunsten der Singenden abschafft? Oder die Nationalzeitung den Führer zugunsten des Führenden?

Montag, 5. März 2012

Positivismus

„Dieses Buch versammelt über 25 motivierende Suggestionen aus Büchern zur Inspiration und Selbstmotivation. Der Herausgeber Christian Godefroy hat zu den unterschiedlichsten Lebensbereichen Formeln für Sie ausgewählt und thematisch geordnet, so dass sie schnell nachgeschlagen werden können. Ersetzen Sie nach und nach die negativen Überzeugungen, die Sie davon abhalten, Glück, Erfolg, Zufriedenheit, Wohlstand und Gesundheit zu genießen. Schon bald werden Sie spüren, wie innere Stärke, Mut und neue Zuversicht in Ihnen wachsen. So können Sie zu einem positiven, erfüllten Leben finden.“[1]
Da bleibe ich lieber bei meinen negativen Überzeugungen und halte es mit Karl Valentin: Sicher is', daß nix sicher is', drum bin i' vorsichtshalber mißtrauisch. Da muß ich wenigstens nicht immerzu Formeln nachschlagen.

Freitag, 2. März 2012

Menschen in der Hauptrolle

„An der Grenzlinie von Unternehmen, Stakeholdern und öffentlichen Einrichtungen gestalten wir Dialoge und beraten bei komplexen Kommunikationsprozessen, in denen Menschen die Hauptrolle spielen.“[1]
Beeindruckend. Aber ich glaube, die Erwähnung der Menschen und ihrer Hauptrolle hätte man sich sparen können. Auch wenn vielleicht sogar unter Hühnern oder Kühen komplexe Kommunikationsprozesse stattfinden: Deren Beratungsresistenz ist bekannt genug, um das Mißverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen, die Firma könnte auch sie zu ihren Kunden zählen.

Donnerstag, 1. März 2012

Neusprech: manchmal

„... vieles von dem, was unsere Demokratie heute trägt, ist ohne seine christlichen Wurzeln nicht zu verstehen, auch wenn es manchmal gegen die Kirche errungen wurde“, sprach die Bundestagsvizepräsidentin und EKD-Ratsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt.[1]
Manchmal bedeutet mitunter, ab und zu, ziemlich selten. Das, was unsere Demokratie heute trägt, ist jedoch in den meisten Fällen, überwiegend, ja fast immer gegen die Kirche errungen worden.
Man muß das aber nicht als ein Anzeichen dafür nehmen, daß unseren Politikern das Wissen um die Bedeutung der einfachsten Wörter verlorengeht. Sie kennen sie schon. Bei Orwell mußten noch neue Wörter erfunden werden, doppeltplusgut z. B.; aber mit altbekannten funktioniert es manchmal, also oft noch besser.