Montag, 10. Oktober 2011

Bildungselend

Der Abgeordnete Sven-Christian Kindler sprach: „Gerade die Kinder aus bildungsfernen Schichten brauchen Betreuung in gut ausgestatteten Kitas und Kinderbetreuungsstätten.“ Dafür gab es „Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN“.[1]
Ein Zeit-Leser wollte wissen, ob es denn einen Unterschied gebe zwischen „ungebildet“ und „bildungsfern“, und ein anderer versetzte patzig: „Wer sich in diesen Begriff nicht eindenken kann, könnte vielleicht schon als ‚bildungsfern’ angesehen werden.“[2]
Da lasse ich mich gern als bildungsfern ansehen, wenn mir dadurch erspart bleibt, diesen Begriff, in den ich mich gar nicht gerne eindenke, verwenden zu müssen. Bis vor wenigen Jahren kam man ja ganz gut ohne ihn aus, ohne doch zur Sache schweigen zu müssen oder einfach an seiner Stelle „ungebildet“ zu benutzen.
Von ungebildeten Schichten hörte man wenig. Die damaligen Gebildeten sprachen wohl vor allem deshalb ungern so, weil ihnen, anders als den heutigen, gleich Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ in den Sinn kam und man zwischen Lesen und Bildung einen Zusammenhang sah. Und das Lesen der Arbeiter stand einst, vor der Erfindung der Bildzeitung, in hohem Ansehen.
Wer lesen konnte, konnte meist auch schreiben. Heute ist es anders, ob in der Arbeiterklasse oder außerhalb ihrer Reihen. Die folgenden Zeilen haben Menschen verfaßt, die sicher des Lesens kundig sind: „Hochbegabtenzüge wenden sich an die Zielgruppe ausgewiesener Hochbegabter. Dies setzt – als eine erste Stufe des Auswahlverfahrens – eine Testung auf IQ-Wert und intellektuelles Profil voraus. Das anspruchsvolle pädagogische Konzept fängt daher alle hochbegabten Schülerinnen und Schüler in ihrer Unterschiedlichkeit auf, auch die sog. Underachiever (Leistungsverweigerer), auch Kinder aus bildungsfernen Schichten oder Kinder mit Migrationshintergrund.“[3]
Man sieht, was an dem Gejammer der linken Parteien über das Elend, vor allem die Chancenlosigkeit der bildungsfernen Schichten dran ist: Es ist heute ohne weiteres möglich, auch ohne die Merkmale, an denen man jemanden als Angehörigen der bildungsnahen Schichten erkennt – und man erkennt ihn ja vor allem daran, daß er sich gebildet ausdrücken kann –, bis zu einer Position aufzusteigen, in der man Stellungnahmen des Bildungsministers für den Landtag verfassen darf.
Von ungebildeten Schichten hörte man früher also wenig. Ungebildete Menschen aber gab es viele. Heute scheinen sie ausgestorben zu sein, von den bildungsfernen Schichten verdrängt wie seinerzeit der Neandertaler vom Homo sapiens. Nun habe ich aber erfahren, daß man kürzlich eine weitere Spezies entdeckt hat: „Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland mehr Bildungsarme als in anderen Ländern,“ schreibt die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin.[4] Was sind das denn für welche? Solche, die arm an Bildung sind? Handelt es sich also nur um einen neuen Namen für Ungebildete? Oder sind das Leute, die wegen ihres Mangels an Bildung arm sind? Dem wäre abzuhelfen: Als Stellungnahmenschreiber beim Bildungsministerium müßte man sie doch gebrauchen können, und da verdient man sicher ganz gut.
Ein anderer Vorschlag, wie man denn die nennen soll, die man ständig voller Sorge um ihre Bildung umkreist, kommt aus der Kreisen der empirischen Sozialforschung: Es sind Leute, die aus einem „hinsichtlich Sozioökonomie und Bildung schwachen herkunftsfamiliären Milieu“ kommen.[5] Es wird schwer sein, das zu überbieten[6].

2 Kommentare:

Stephanus hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Keiner Udenos hat gesagt…

Bildungselend …
… ist ein Un-Begriff, wie er als elende BILD-Neuigkeit täglich produziert und verkauft werden muss; der keinen beschreibenden, keine helfenden Stichworte hat, sondern wertender Unsinn ist, mit dem immerzu Entsetzen und Elend transportiert werden sollen.
Wer solche Begriffe produziert, weitergibt, sie als Stichworte, gar als Überschriften einsetzt für seine kleinen, rituellen oder großen, liefert Showkämpfe von Vorurteilen, wie sie unter intelligenten Menschen unerwünscht sind. Sie richten nur weiteres Unheil an..
Der Meister des Vorschlaghammers weiß keine besseren Beweisführungen, seine Werte blieben in der Dunkelkammer des Irrationalen; er hat noch nie von der Erkenntnisleistung von deskriptiven im Gegensatz zu präskriptiven Untersuchungsmethoden.
Wer mit „Bildungselend“ sein Aufsätzchen firmieren will, zeigt und produziert neues „Elend“, auf Grund seiner verkrüppelten Vorstellungen, die es ihm nur leisten, beliebigen, unzusammenhängenden Quatsch auszuweisen: das Elend seiner Bildungsnot.
Er entdeckt den Unsinn, den er im Kopf hat – und gibt ihn als Außenrealität ab, als sein es eine eigene Erkenntnis.
Wer von „Bildungselend“ quatscht, zelebriert nur seinen eignen Unsinn in Sachen Pädagogik, Erziehung und Bildungsinhalten. Es ist das Elend des Rechthabers; er hat nur sein Brett vor dem Kopf hat, seine verqueren Balken vor den Augen, die ihm die Wirklichkeit als unsäglich, als unbeschreibbar im Sinne einer Deskription erscheinen lässt.
Bildungselend .. .gibt es im Duden nicht. Er, der Dummbegriff, verschafft Menschen, die sich nicht beschreibend, planvoll, um Veränderung gewillt sind, über Bildung verbreiten – sondern zu ihrem eigenen Wohlgefallen; für ihre Sprach-Kleinfritzigkeit, dem man die Bildungsferne, die -unlust ansieht; ich sage es undudensch: das Bildungselend.