Für die Auszeichnung „Unwort des Jahrzehnts“ – ich hoffe, es gibt sie – möchte ich „Migrant“ vorschlagen. Es hat sich mit kaum faßlicher Geschwindigkeit in den Teilen der Gesellschaft ausgebreitet, denen politische Korrektheit über alles geht und deren Sprachkompetenz (siehe Sprachkompetenz im Umfeld) sehr der Optimierung bedarf. Das sind vor allem jene Teile der Mittelschicht (s. Umschichtungen) und der Oberschicht (ebd.), die ihre Zugehörigkeit zu diesen Schichten ihrem kulturellen Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu verdanken, während man in der Unterschicht im Sinne von Harald Schmidt (ebd.) sich differenzierter auszudrücken versteht. Man sagt da z. B. „Kanaken“ oder „Fidschis“. So wie man jeden Verdacht verwerflicher politischer Gesinnung von sich zu weisen versucht, indem man das Wort Führer – z. B. in „Reiseführer“ – vermeidet und statt dessen Guide sagt oder statt Arbeitslager Arbeitscamp oder Working Camp, so auch hier. Wer Ausländer sagt, macht sich, dessen ist man sich in diesen Kreisen sicher, mit denen gemein, die „Ausländer raus“ rufen, und überhaupt setzt er sich dem Verdacht aus, zu meinen, die Ausländer sollten wieder gehen; es macht ja das Wesen des Ausländers aus, daß er sich normalerweise im Ausland aufhält.
Darum sagt der politisch korrekt sprechende Kulturkapitalist lieber Wanderer, und weil es nicht so ganz unverdächtig ist, deutsch zu sprechen, übersetzt er’s in ein Fremdwort. Aber warum ausgerechnet Wanderer? Auch zum Wesen des Wanderers gehört, nicht zu bleiben. Unser politisch Korrekter wollte eigentlich gar nicht Wanderer sagen, sondern Einwanderer, also Immigrant. Doch dann fällt ihm ein, daß der Immigrant aus der Sicht seines Herkunftslandes ja ein Emigrant ist, und daß mancher Ausländer – er schaudert beim bloßen Gedanken an dieses Wort – ja wirklich wieder geht, dies zumindest vorhat und sich vielleicht nicht gern als Immigranten bezeichnen lassen möchte. So sucht er nach einem Begriff von weiterer Bedeutung, der alle seine Anliegen unter sich faßt und kommt auf Migrant.
Dummerweise ist aber Wanderer keineswegs der Oberbegriff von Ein- und Auswanderer. Von seinem Heimatland aus gesehen ist jemand, der es verläßt, ein Auswanderer, vom Land, in dem er sich niederläßt, aus gesehen ist er ein Einwanderer, zum Wanderer aber wird er dadurch nicht. Nur während der Zeit, in der er unterwegs ist, ist er einer, und er wäre auch einer, wenn sein ganzes Leben in ständigem Aus- und Einwandern bestünde. Auf unseren deutschen Mittel- und Oberkläßler hingegen paßt das Wort schon eher, ist er doch typischerweise einen Großteil seiner Zeit in der Welt unterwegs. Zumindest ist er wie der migrant (engl.: Zugvogel) zu bestimmten Jahreszeiten garantiert in einer anderen Gegend als in der, die er vielleicht seine Heimat nennt. Und wenn er gar dem jet set angehört, dann durchwandert er unaufhörlich die Welt, ohne irgendwo Rast noch Ruh zu finden, ein Migrant par excellence, wenn auch kein Wanderer zwischen den Welten, denn er kommt aus seiner nicht raus. Aber wäre je einer in den Zeiten, in denen man noch Deutsch konnte, auf den Gedanken gekommen, jemanden, der aus Hessen stammt und sich in Pennsylvanien als Farmer niedergelassen hat, einen Wanderer zu nennen?
Siehe dazu auch: http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/02/migranten.html
Siehe dazu auch: http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/02/migranten.html
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