Jahrtausendelang ging’s auf der Welt ungerecht zu. In der Zeit der Aufklärung war man damit nicht mehr zufrieden. Die Liberalen zwar, die damals aufkamen, hatten, wie die heutigen, wenig Einwände. Sie meinten, wer nichts dagegen ausrichten kann, daß das, was er erarbeitet hat, ein anderer einstreicht, ist selber schuld. Aber die demokratischen, vom Rationalismus und dessen Überzeugung, daß die Vernunft uns Einsicht in höhere Wahrheiten gewährt und daß man unter diesen Wahrheiten Prinzipien wie eben und allem voran Gerechtigkeit findet – also die von dieser Überzeugung geprägten Aufklärer, die würden jauchzen und frohlocken, wenn sie den Siegeszug sehen könnten, mit dem ihr Fahnenwort heutzutage die deutsche Sprache überrollt:
Umweltgerecht, behindertengerecht, urlaubsgerecht, saunagerecht, schlafgerecht, wellnessgerecht, fitnessgerecht, sozialgerecht, familiengerecht, kindgerecht und kindergerecht, hundegerecht, arbeitsgerecht, arbeitsplatzgerecht und jobgerecht, landschaftsgerecht, frauengerecht, das mit seinen 6.400 Treffern bei Google allerdings bereits weit überholt ist vom vermutlich nichts anderes bedeutenden gendergerecht (21.700), bildungsgerecht, teamgerecht, selbstverständlich partner- und dynamikgerecht, nachhaltigkeitsgerecht, aber zu meiner großen Überraschung kein sustainabilitygerecht, wohl aber ökologiegerecht, zukunftsgerecht, ideengerecht, integrationsgerecht, mehrweggerecht wiederbefüllt, gefühlsgerecht, noch nicht aber feelinggerecht, wohl allerdings wohlfühlgerecht, ganzheitsgerecht, erlebnisgerecht, spaßgerecht und fungerecht, eventgerecht, projektgerecht, aber noch nicht projektvorhabensgerecht[1], bedarfsgerecht und verkehrsgerecht, aber noch nicht bedarfegerecht[2] und verkehregerecht[3], was aber bald kommt. Auch auf centergerecht, trauergerecht, trauerarbeitgerecht und herausforderungs- bzw. challengegerecht[4] warten wir noch, doch sicher nicht mehr lange.
Leistungsgerecht ergab 41.000 Treffer, aber keinen einzigen erbrachte leistungsträgergerecht, und nur einen einzigen gab es für elitegerecht. Daran kann man sehen, daß die alte mit dem Gerechtigkeitsbegriff verbundene Menschheitshoffnung in der Tat diese Wortinflation beflügelt und befeuert. Denn trotz allerheftigster Bemühungen z. B. der FDP, den Leuten klarzumachen, daß es gerecht sei, wenn ein Leistungsträger[5], also z. B. ein Aktienbesitzer, fünfzig oder hundert mal so viel verdient, d. h. einstreicht wie einer, der die Leistung erbringt, an der jener Träger verdient bzw. die er einfährt[6] – fünfzig oder hundert mal so viel also wie einer, der ihren Ertrag verdient, aber nicht an ihm verdient: Sprachlich will die Ehe von Leistungsträger und Gerechtigkeit einfach nicht zustande kommen.
Außer dem Nachwirken jener Menschheitshoffnung hat die Gerechtigkeitskonjunktur noch einen weiteren Grund: Faulheit. Statt sich um einen Satz zu bemühen, in dem der Gedanke sprachgerecht formuliert wird, daß etwas der Integration von Migranten[7] dienlich sei, rotzt man „integrationsgerecht“ hin. Paul Lafarge, Ehemann der Tochter des bekannten Arbeitstheoretikers und Arbeiterführers Karl Marx, Lafarge also, der im Banne seines Schwiegervater- oder Schwiegersohnkomplexes das Loblied der Faulheit gesungen und das Recht auf dieselbe proklamiert hat, kannte das Wort faulheitsgerecht nicht. Hätte er es gekannt, er hätte es nicht verwendet. Denn ihm wäre daran ein Mangel an Ästhetikgerechtigkeit aufgefallen. Und auch wenn er in der Sache zugestimmt hätte, wäre ihm wohl aus dem selben Grund die Formulierung suspekt gewesen, daß es hier eine Ästhetikgerechtigkeitslücke zu schließen gelte oder man ein Ästhetikgerechtigkeitsdefizit herunterfahren[8] müsse.
Einen dritten Grund gibt es – selbstverständlich – noch: Es hört sich doch ganz anders an und man ist gleich jemand, wenn man nicht einfach schreibt, dies oder jenes tue dem Hund gut oder erfreue ihn, sondern es sei hundegerecht. Dem Wort Gerechtigkeit kann man ein gewisses Blähpotential[9] nicht absprechen, welchen Begriff aus der Ernährungslehre, wo er nach Wikipedia z. B. eine dem Rosenkohl zugesprochene Eigenschaft bezeichnet, mit einer leichten Bedeutungsverschiebung in die Sprachwissenschaft zu übertragen bzw. zu transferieren ich hiermit vorschlage bzw. beantrage.
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