Mittwoch, 12. Oktober 2011

Stakeholder

„Als Stakeholder (engl.) wird eine natürliche Person (der Mensch in seiner Rolle als Rechtssubjekt) oder eine juristische Person (z. B. eine Institution) bezeichnet, die ein Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses ... hat.“[1]
Wozu Wikipedia doch gut ist! Vor 15 oder 25 Jahren tauchte mit einem Schlag in einer Unzahl von Texten, die ich lesen mußte – Fachliteratur und vor allem Studentenarbeiten – „Stakeholder“ auf. Ich verstand nicht, wozu das Wort nötig war. Was die Autoren mir sagen wollten, war, so schien mir, auch nichts anderes, als sie mir vorher und mit ähnlichem Erfolg ohne dieses Wort zu sagen versucht haben. Und ich habe bis heute nicht begriffen, was es bedeutet. Mein Eindruck war, daß es in den allermeisten Fällen „Leute“ auch getan hätte, in manchen schien es mir aber nur um die zu gehen, die bei irgendeiner Sache tüchtig mitmischen.
Nun erfahre ich: In meiner Rolle als Rechtsubjekt habe ich das Recht, von A nach B zu laufen, ich übe dieses Recht aus und habe ein Interesse am Ergebnis des Laufprozesses, möchte nämlich ankommen. Ich bin folglich ein Stakeholder, bin es immer gewesen und werde es immer sein, in jedem Moment meines Lebens. Der Frage, ob das erlaubt oder verboten ist, was ich tue, kann ich ja nicht entgehen, bin also jederzeit Rechtssubjekt, und interessiert bin ich auch immer an irgendwas, sonst würde ich nichts tun, nicht einmal schlafen. Ich lag schon richtig mit der Vermutung, daß „Stakeholder“, wenn es nicht gerade um bloß juristische Personen geht, nichts anderes als „Leute“ bedeutet. Man sollte diese vulgären Wörter ganz vermeiden, deren Gebrauch den Rangunterschied nicht erkennen läßt zwischen den gewöhnlichen Menschen und denen, die wissenschaftliche Aufsätze schreiben dürfen. Auch in wissenschaftlichen Fächern, in denen man diesbezüglich bisher eher zurückhaltend war, sollte man konsequent „Stakeholder“ benutzen. Zum Beispiel die Historiker: Im Mittelalter sind die Stakeholder auf dem Marktplatz zusammengelaufen, um den Hinrichtungsprozeß, an dessen Verlauf und Ergebnis sie ein Interesse hatten, beizuwohnen.
„Aber nein!“ werde ich belehrt. „Daß jeder Mensch jederzeit ein Stakeholder ist, macht dieses Wort keineswegs überflüssig. Jeder Mensch ist auch jederzeit ein Sterblicher, und Sünder sind wir allzumal. Das macht diese beiden Wörter doch nicht überflüssig!“ Gut, das sehe ich ein. Ich bleibe aber erstens dabei, daß „Im Mittelalter sind die Leute ...“ dem „Im Mittelalter sind die Stakeholder ...“ vorzuziehen ist, und daß es in mindestens 95 Prozent der Fälle, in denen der Zeitgeist das ihm auf Zunge und Seele brennende „Stakeholder“ nicht zurückhalten kann, ebenso ist. Und zweitens frage ich mich, warum in den wenigen Fällen, in denen der Sache in der Tat durch ein besonderes Wort gedient ist, es ausgerechnet „Stakeholder“ sein muß.
Lange muß man da nicht nachdenken. Als vor einem Vierteljahrhundert die neoliberale Ideologie sich in der zivilisierten Welt auszubreiten begann wie seinerzeit die Beulenpest in Europa, hatte sie den Stakeholder in ihrem Troß. Das Zentralstück des Neoliberalismus ist bekanntlich der Glaube, daß die Dinge, in denen der Reichtum der Nationen besteht, nicht, wie die zu kurz Gekommenen meinen, erarbeitet wird, sondern in Gestalt von Geld vom Himmel purzelt wie weiland die Sterntaler und daß es nur noch darauf ankommt, es einzusammeln. Dazu reicht es aber heutzutage nicht, einfach sein Hemd aufzuhalten, sondern man muß bei einem Spiel mitmachen und sein Leben als durch und durch in eben diesem Spiel bestehend begreifen. Deshalb kam damals der merkwürdige Brauch auf, in den Nachrichten die Börsenkurse zu verlesen. Der jüngeren Generation ist das andächtige Lauschen, wenn sie dran sind, so selbstverständlich geworden wie früheren das Tischgebet; der Zweck ist ein ähnlicher und es hilft wohl genauso viel. Das Spiel, in dem das Leben besteht, ist ein Glücksspiel und zugleich ein Geschicklichkeitsspiel, es ist anstrengend und man kann dabei ins Schwitzen kommen. Darum sprechen die Spieler lieber von Leistung statt von Spiel und nennen sich Leistungsträger.
Stakeholder kommt (s. o.) aus dem Englischen. Soweit ich herausfinden konnte, findet man unter denen, die sich mit der Herkunft des Wortes genauer befassen, zwei Auffassungen: Erstens, ein stakeholder ist einer Spieler, dessen Einsatz auf dem Spiel steht. Wikipedia schreibt: „’Stake’ kann mit ‚(Wett-)Einsatz, Beteiligung’ übersetzt werden, ‚holder’ mit „Eigentümer, Halter’. Der Stakeholder ist daher jemand, dessen Einsatz auf dem Spiel steht und der daher ein Interesse an Wohl und Wehe dieses Einsatzes hat.“[2] Zweitens, ein stakeholder ist ein Unparteiischer, der die Wetteinsätze verwahrt.
Wie auch immer, jedenfalls ist er einer, der an Spielen um Geld beteiligt ist. Man belegt also jemanden, dessen Überleben vom Ausgang eines Planungs- und Entscheidungsprozesses abhängt, weil man ihm z. B. buchstäblich das Wasser abgräbt, genauso wie einen, der einiges Geld verlieren könnte, das er in ein beteiligtes Unternehmen investiert hat – aus seiner Perspektive also in ein Spiel –, mit dem gleichen aus der Sphäre des Zockens stammenden Begriff. Nicht jedem will das so ganz passend erscheinen.

2 Kommentare:

Phaeake hat gesagt…

Der deutsche Begriff für Stakeholder ist m.E. "die interessierten Kreise". Für diejenigen, die einen bestimmten Prozess betreiben, zB ein Gesetzgebungsverfahren, ist es schon sehr sinnvoll einen Begriff für all diejenigen zu haben, die von dem geplanten Gesetz in spezifischer Weise betroffen ist. "Wir müssen den Entwurf unbedingt noch mit den interessierten Kreisen oder eben den Stakeholdern diskutieren" klingt schon besser als "... mit den Leuten ..."

Ludwig Trepl hat gesagt…

Sag ich ja; nur daß es dieses Wort aus der Zockersprache sein muß (und nicht z. B. "interessierte Kreise"), scheint mir bezeichnend. Aber in den meisten Fällen - dabei bleib' ich - täte es "Leute" auch.