„Europa ist größer geworden. Mit dem Beitritt von zehn neuen Ländern ...“, schreibt der Berliner Landesverband der Grünen im Mai 2004.[1]
Man staunt, erschrickt vielleicht. Wie war das möglich? Haben die fleißigen Holländer dem Meer wieder ein paar Quadratkilometer Land abgerungen? Haben gewaltige tektonische Kräfte den Ural nach Osten verrückt? Aber dann erfährt man, daß es um etwas anderes geht, nämlich daß neuerdings Länder zu Europa gehören, die bislang nicht dazu gehörten. Man fragt sich, wo die vorher lagen.
Östlich von Europa lagen sie, erfährt man. Da liegt Asien. Und man erinnert sich an den Anblick der weiten kasachischen Steppen zwischen Karlsbad und Prag, über die die böhmischen Völkerschaften auf ihren struppigen, flinken Pferden galoppierten, stets bereit, in das Abendland einzufallen. „Aus seinem öden Ost daher / soll er sich nimmer wagen mehr“, läßt Richard Wagner den König Heinrich im Lohengrin singen. Den Ungarn meint er, der soll sich nimmer wagen.
Gut, daß das vorbei ist. Nachdem wir 1989/90 die Abwehrschlacht auf dem Lechfeld siegreich bestanden haben, sind wir zum Gegenangriff übergegangen und haben ihm die Wüste Gobi, die sich rund um Budapest dehnt, abgenommen. Die gehört seitdem uns, den Europäern, nicht mehr dem Umgarn. Aber wenn er brav ist, so sagten wir ihm, darf er auch ein Europäer werden. Und in der Tat, jetzt ist er’s geworden. Der Ungar kann nun aus rein logischen Gründen nicht mehr in Europa einreiten, weil er selbst darin lebt und Europäer ist.
So haben wir’s ja auch mit der Ostzone gemacht. Leipzig lag nicht in Deutschland, sonst hätte das ja nicht größer werden können, als Leipzig hinzukam. Aber jeder Deutsche hat damals gesagt, daß Deutschland größer geworden ist. Die Leipziger vielleicht nicht, aber die waren ja keine Deutschen. Thüringen, das östlich von Deutschland lag, also vielleicht in Polen oder Weißrußland, liegt jetzt in Deutschland, sogar ziemlich genau in der Mitte. Jetzt sind die Thüringer und die Leipziger Deutsche geworden, mehr noch, Europäer sind sie geworden und dürfen bei der Erweiterung Europas nach Osten mitmachen, damit der Ungar und sogar der wilde Böhme auch Europäer werden können.
Ist das nicht ein schönes Beispiel für eine gelungene Verbindung von Tradition und zivilisatorischem Fortschritt? Dem guten alten Brauch der Ostlandreiterei bleiben wir treu, aber wir modernisieren und humanisieren ihn, wir unterjochen die Ostvölker nicht mehr, sondern sorgen dafür, daß sie so werden wie wir. Dann sind sie Europäer geworden, und dann spricht auch nichts mehr dagegen, Pilsen zu Europa zu zählen, so abwegig uns dieser Gedanke im ersten Moment auch noch erscheinen mag.
Lieber Landesverband der Grünen, kann es sein, daß Dir der Unterschied zwischen den Bedeutungen der Wörter „Europa“ und „Europäische Union“ nicht ganz klar ist? Vielleicht sogar ein bißchen absichtlich nicht klar ist?
Wenn aber in der Zeit vom 12. August 2010 steht „Auf einmal wächst Deutschland so schnell wie China“, so sollte man das nicht kritisieren, denn es steht auf der Wirtschaftsseite. Und hier befinden wir uns ja in einer Parallelwelt. Sie hat, wie seit der Finanzkrise auch der Letzte begriffen hat, mit der wirklichen Welt zwar insofern zu tun, als sie dieser ständig Ärger macht und die meisten Katastrophen von ihr ausgehen, aber sonst nichts. Sie ist von ganz anderen Wesen bevölkert, besteht aus ganz anderen Dingen und diese bestehen aus ganz anderem Stoff als die wirkliche, und so ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn die Wörter etwas völlig anderes bedeuten. Zum Beispiel nennt man dort, wie allgemein bekannt, diejenigen, die die Arbeit sei's dankend entgegen-, sei's wegnehmen, Arbeitgeber. Und darum spricht auch nichts dagegen, mit Wörtern wie Deutschland oder China nicht Länder zu bezeichnen, sondern z. B. ein Bruttosozialprodukt oder eine andere Geldsumme.
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